Kategorie: Tonabnehmer

Einzeltest: Top Wing Seiryu (Blue Dragon)


Wenn weniger mehr ist

Tonabnehmer Top Wing Seiryu (Blue Dragon) im Test, Bild 1
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Das wird Ihnen nicht gefallen. Das kann es nicht. Ganz einfach deshalb nicht, weil es so unfassbar viel Geld kostet

Ja, ja. Sie haben natürlich Recht. Knapp 10.000 Euro für einen Tonabnehmer sind
 zuviel. Eindeutig jenseits der Grenze des guten Geschmacks angesiedelt. „Zehn Kilo“ für ein Verschleißteil - geht‘s noch? Ähem
 einen Moment bitte. Nur ganz kurz. Mir ist klar, dass das ein unverhältnismäßig großer Batzen ist. Aber: Das mit dem Verschleißteil, das gilt es zu relativieren. Im Gegensatz zu den allermeisten anderen Top-Abtastern lassen sich beim Top Wing Seiryu (was auf Englisch „Blue Dragon“ heißt) die Verschleißteile nämlich relativ unproblematisch austauschen. Sprich: Der Hersteller bietet an, den Nadelträger mit Nadel für 1800 Euro zu ersetzen. Das ist immer noch kein Grund, im Umgang mit dem Abtaster alle Vorsicht fahren zu lassen, aber es ist eine faire Möglichkeit, den Abtaster ohne Wenn und Aber im Falle eines Falles wieder in den Neuzustand zu versetzen.

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Was bei MC-Abtastern beileibe nicht so einfach ist: Für eine korrekte Reparatur muss man das gute Stück weitgehend zerlegen und größere Teile des Generators ersetzen. Das ist übrigens der Grund dafür, dass das praktisch niemand tut und MC-Reparaturen fast immer etwas behelfsmäßige Lösungen mit einem auf den hoffentlich noch vorhandenen Nadelträgerrest aufgeschobenen Röhrchen darstellen. Und ja: Sie dürfen daraus folgern, dass das Top Wing kein MC-Abtaster ist. Sondern nach einem „coreless straight-flux“ getauften Verfahren arbeitet. Was natürlich, wie so ziemlich alles in Sachen Tonabnehmer, keine ganz neue Idee ist, sondern eine Spielart des guten alten MM-Prinzips. Realisiert von einem Herren namens Hiromo Meguru, der seinerzeit für eine MM-Legende namens Grace F-9e verantwortlich zeichnete. Bei seinen Top Wing-Abtastern wird ein Magnet vom Nadelträger bewegt und feststehende Spulen generieren aus der Magnetfeldänderung Signalspannungen. Klingt soweit alles nach ganz normalem MM? Ist es auch, mit einem großen Aber: Die Spulen sind sind „Luftspulen“, will sagen: Bei ihnen gibt es keinen Kern, der die Effektivität der energetischen Kopplung zwischen Magnet und Spulenwindungen erheblich verbessern würde. Warm sollte man so etwas weglassen? Weil‘s, wie so ziemlich jede eigentlich gute Idee, im realen Leben nicht nur Vorteile hat: Kernmaterialien verfügen über bestimmte „Beharrungskräfte“. Die führen dazu, dass ihre Ummagnetisierung nicht beliebig schnell erfolgen kann, sondern einem Verzögerungsmechanismus unterworfen ist, den man magnetische Hysterese nennt. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Nachwirkung“. Das ist eine zutiefst unerwünschte Form von Nichtlinearität, die sowohl bei MM- wie auch bei MC-Abtastern auftritt. Lösen kann man das Problem nur dadurch, dass man den Kern weglässt. Und sich damit eines großen Vorteils des MM-Prinzips beraubt, nämlich dem der relativ hohen Ausgangsspannung. „Normale“ MMs liefern in der Gegend von zwei bis fünf Millivolt (bei einer Schnelle von 5cm/s), beim Seiryu muss man sich mit 0,2 Millivolt begnügen – das ist auf dem Niveau eines „leisen“ MCs. Es darf als erstaunlich gelten, dass sich mit dieser Art des Aufbaus überhaupt noch soviel Spannung produzieren lässt; das Ergebnis spricht für eine sehr gut ausgetüftelte Anordnung der Spulen in unmittelbarer Nähe des sich bewegenden Magneten.

Die beiden Spulen sind im 90-Grad-Winkel zueinander und in unmittelbarer Nähe des Magneten angeordnet. Erstaunlich ist ihr relativ geringer Innenwiderstand von nominell 12,3 Ohm. Das liegt in der Größenordnung dessen, was bewegte Spulen von MC-Abtastern haben und deutet darauf hin, dass hier nicht Unmengen von Draht aufgewickelt wurden, wie bei MMs üblich. Deren Spulen haben nämlich normalerweise Innenwiderstände in der Gegend von einem Kiloohm und mehr. Was das Ermitteln des korrekten Abschlusswiderstandes beim Top Wing zu einer spannenden Angelegenheit macht, der Hersteller schweigt sich dazu nämlich aus. Die Spuleninduktivität ist gar offiziell als geheim ausgewiesen.
In Sachen Abtastsystem gibt sich das Blue Dragon druchaus bodenständig: Am Ende des Aluminiumnadelträgers sitzt ein kleiner Diamant mit Line-Contact-Schliff. Das andere Ende des Nadelträgers bildet der Ringmagnet. Dieser dient außerdem als Montagefläche, über die die Schwingeinheit mit dem Dämpfer verbunden ist. Wie es aussieht, bildet dieses Dämpfungsgummi die einzige Verbindung zum Systemkörper. Es gibt offensichtlich keinen Spannfaden oder ein sonstiges „Rückgrat“ bei der Nadelträgeraufhängung. Klingt ultrasimpel und ist de fakto der Grund dafür, dass man das schwingende System relativ einfach tauschen kann. Wir dürfen aber davon ausgehen, dass die Tücken hier im Detail stecken. Ich habe keine verlässlichen Angaben zur Nadelnachgiebigkeit des Blue Dragon gefunden; wir dürfen aber davon ausgehen, dass jene eher im Bereich mittel bis hoch angesiedelt ist – an ausgewiesen schweren Armen fühlte es sich bei mir nicht besonders wohl.

Der weitgehend quaderförmige Systemkörper besteht aus einer harten Aluminiumlegierung und ist – daher der Name – in einem hübschen Blauton eloxiert. Die Befestigung erfolgt, das ist bei japanischen Abtastern nicht ganz unüblich, über lange durch seitliche Schlitze zu steckende Schrauben. Ich muss gestehen, dass mir Lösungen mit eingelassenen Gewinden erheblich lieber sind, weil die Montage deutlich weniger fummelig ist. Letztlich geht‘s aber natürlich auch so.

Zum Lieferumfang gehört ein wirklich hübsches Aluminium-Headshell mit SME-Bajonett, in Sachen Farbe und Material perfekt auf den Abtaster abgestimmt. System und Headshell wiegen zusammen 30 Gramm, was nicht so wenig ist und Einen schon wieder auf etwas schwerer Tonarme schielen lässt. Ich habe diverse Kandidaten probiert und bin letztlich tatsächlich bei einem relativ modernen SME gelandet, nämlich der Transrotor-Variante 5009.

Bei der Justage des Blue Dragon gilt es ein wenig Zeit zu investieren. Das Potenzial dieses Abtaster in Sachen Detailauflösung und Präzision ist immens und wenn man sich dem Optimum nicht bei allen Parametern behutsam nähert, verschenkt man möglicherweise eine Teil der Pracht, die sich hier auftun kann. Zum Glück gibt der Abtaster eine relativ deutliche Rückmeldung, ob er sich wohl fühlt oder nicht. Im letzteren Fall klingt er einfach durchschnittlich. Irgendwie korrekt, aber ohne großes Engagement. Wenn‘s stimmt, dann öffnet sich die Bühne, es stellt sich filigrane Finesse ein, es klingt plötzlich – ich sag‘s nicht gerne: teuer. Das gilt für alle Parameter, bis auf einen, und das ausgerechnet für den, auf den ich am meisten gespannt war: die optimale Abschlussimpedanz. Da kann ich Ihnen keine letztgültige Empfehlung geben. Das Blue Dragon reagiert darauf erstaunlich wenig – und das gilt für den Bereich zwischen 100 Ohm und 47 Kiloohm. Ja, sogar mit der nominalen MM- Abschlussimpedanz weiß diese Preziose zu überzeu-gen. An Malvalves preamp three phono bin ich letztlich im Bereich um 400 Ohm hängengeblieben. Dann passen Dynamik, Bühne und Tonalität perfekt zueinander. Eine großen Teil des Setups habe ich mit der impulse!-Pressung von John Coltranes „A Love Supreme“ gemacht. Aus gutem Grund. Was das Top Wing hier in der Lage ist, an Nuancen sowohl bei den beiden Tenorsaxofonen als auch beim Schlagzeug herauszudifferenzieren, das ist Abtastkunst der allerhöchsten Güte. Enorm filigran, subtil und von einer selten anzutreffenden Selbstverständlichkeit ist das, was der blaue Aluminiumklotz liefert. In dieser Hinsicht kann auch das fantastische DS Audio DS-E1 nicht mithalten. Natürlich musste mein heiß und innig geliebtes Lyra Atlas sich ebenfalls dem Vergleich stellen. Auch das schafft die filigrane Präszision des Top Wing nicht ganz. Es hat aber diese wunderbare Fähigkeit, den Zuhörer zu umarmen und mit auf eine ergreifende musikalische Reise zu nehmen, wogegen das Blue Dragon exakter, genauer, wissenschaftlicher an die Sache herangeht. Tatsächlich ist mir kein Tonabnehmer bekannt, der eine solche Informationsflut aus einer Rille auf einer Vinylplatte zu extrahieren in der Lage ist. Gönnen Sie ihm die beste Phonovorstufe, derer Sie habhaft werden können – dann dürfte das Thema Schallplattenabtastung für Sie erledigt sein.

Fazit

Dieses japanische Kleinod ist nicht weniger als eine Sensation in Sachen Feinzeichnung, Detailauflösung und Präzision bei der Schallplattenabtastung. Kein anderer Abtaster taucht so tief in die Rille.

Kategorie: Tonabnehmer

Produkt: Top Wing Seiryu (Blue Dragon)

Preis: um 9900 Euro

1/2021
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